Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

▶ Identität

Identität ist ein schwieriges Wort, der Begriff dahinter schwer zu fassen. Sicher gibt es viele verschiedene Verständnisse davon.
Grundlegend scheint, zwischen der selbst wahrgenommenen Eigen-Identität und der von außen wahrgenommenen (und kommunizierten) Fremd-Identität zu unterscheiden. Die Eigen-Identität enthält offenbar einen extern unzugänglichen, nicht komplett bewussten Kern. Sie ist durch das Aufwachsen, durch Äußerungen Anderer, durch Interaktionen in großem Maße mit bestimmt; allerdings wird die Außenreaktion wiederum interpretiert und verarbeitet. Die Eigen-Identität ist durch die Aufnahme zugeschriebener Identitätsmerkmal immer eine multiple. Ich habe einen Kern von Selbst-Bewusstsein, weiß aber, dass ich in der Familie die Eigenschaften E, bei Freunden die Eigenschaften F, im Sportverein die Eigenschaften G ... habe, die sich partiell überschneiden, im Kern aber sehe ich eine Kontinuität meines Selbst in der sozialen Horizontale von Gruppen-Mitgliedschaften) und in der zeitliche Vertikale meiner Lebensgeschichte, die ich im Gedächtnis konstruieren kann. Ich reagiere in vergleichbarer Weise auf Begegnungen und Ereignisse, hege langfristig bestimmte Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, behalte Gewohnheiten und Einstellungen bei.
Die Fremd-Identität enthält Merkmale die nur zugeschrieben und vom selbst nicht integriert sind, aber auch solche, die das Ich sich zu Eigen gemacht hat. Die Eigenwahrnehmung der Fremd-Identität schließt meist auch Merkmale ein, die das Individuum sich zugeschrieben wünscht, die es aber nicht zugeschrieben kommt (illusorische Fremd-Identität).
Die Fremd-Identität als Wissensstruktur wird auch als "Image" bezeichnet (dazu: Ehlich/Rehbein 1977).
Eigen- und Fremdidentität divergieren systematisch. Ist die Differenz zu groß, sind meist soziale Probleme die Folge.

Beispiel: Jemand hat Eltern, die aus der Türkei stammen, die Erstsprache war Türkisch, sie wird auch weiter in der Familie oft gesprochen, er ist aber in Deutschland aufgewachsen, beherrscht Deutsch, fühlt sich der deutschen wie der westtürkischen Kultur in Vielem nahe, hat den deutschen Pass - und wird gleichwohl als "Ausländer" fremd-kategorisiert. Für ihn ist es nicht leicht, eine Identitätsbalance zu finden und beizubehalten.

Zugang zur Identität finden wir über und durch Sprache (vgl. auch Krappmann 2005) - Sprachformen als Ausdruck von Identitäten zu sehen, ist aber nicht einfach (s.u.).

Wir sprechen von einem Individuum, wenn jemand über bestimmte Zeiten und Räume hinweg derselbe bleibt - bei allen molekularen Veränderungen, geistigen Entwicklungen etc. Diese Kontinuität kann Menschen in der Form bewusst sein, das sie sich im Kern dessen, was sie von sich annehmen, wie sie sich wahrgenommen  sehen, was sie glauben und wünschen ... als mit sich identisch betrachten und dieses Bewusstsein personaler Identität auch ausdrücken können. Solcher Ausdruck können beispielsweise autobiographische Erzählungen sein, in denen sich Kontinuitäten der Selbstwahrnehmung, der Bewertung der Mitwelt zeigen. Für das Individuum gilt es, eine stabile, eigenen Wertmaßstäben gerecht werdende Balance zu halten. Die Balance kann durch selbstbezogene Prädikationen interaktiv gewahrt werden (Krise, Krankheit etc.). Dauerhafte Störungen gefährden die Stabilität.

Das Bewusstsein der eigenen Identität (Reflexivität) basiert auf Reihen von Erfahrungen und mentalen Verarbeitungen von verketteten Ereignissen, die zu Veränderungen geführt haben. Reflexiv können die in den Konstellationen präsenten Interaktionspartner aufgenommen, ihre Perspektive auf das Ich (partiell) integriert werden. Als „generalized other“ (Mead) geht ein Bündel von sozialen Erwartungen in das „Me“ (Mead) ein (Für Mead bestimmt das Me das "I").

Entwicklungspsychologisch - also von einem externen Standpunkt aus - gesehen durchläuft das Individuum über Krisen eine Entwicklung hin zu einem Stadium, in dem oder ab dem es sich mit sich identisch fühlt, d. h. das Selbst als einmaliges Individuum mit einer spezifischen Geschichte betrachtet, durch die es Teil einer Gruppe geworden ist. Eine solche Balance kann n. Erickson nicht vor der Adoleszenz erreicht werden.

Persönliche Identität (bei G. "self") sieht der Soziologe Goffman darin gegeben, dass der Einzelne von allen Anderen unterschieden werden kann. Konstitutiv für die persönliche Identität seien
a) personale Kennzeichen wie der „physische Stil“ (1977: 73) oder
b) äußerliche Mekmale wie z.B. die social security number (1977:75) oder
c) die „einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte“.
Dem wäre hinzufügen, dass dies bewusst und manifestierbar sein muss.

Der Philosoph Searle stellt fest, dass ein Individuum „Bewusstsein hat als auch Wahrnehmung, dazu Vernunft sowie die Fähigkeit, Wahrnehmungen und Gründe so zu organisieren, dass willentliche Handlungen unter der Voraussetzung von Freiheit durchgeführt werden“ (Searle 2006:306). Das bedeutet: Persönliche Identität kommt nur Menschen zu.

Sprachlich ist uns Identität für unseren interaktiven Zugang zu Gruppenmitgliedern so wichtig, dass wir universell die Ausdrucksklasse der Eigennamen dafür ausgebildet haben. Sie bezeichnen symbolisch für eine Gruppe / innerhalb einer Gruppe ein Individuum und markieren seine soziale Identität, an die sich bestimmte unverwechselbare Bündel von Eigenschaften heften. Namen repräsentieren genuin Fremd-Identität.

Eigen-Identität repräsentiert die Sprecherdeixis ich. Dieses Zeigwort nutzt der Sprecher, um den Hörer auf die eigene Person als Nahbereich zu orientieren. Mit selbst wird die Erwartung, dass jemand anders für eine Handlung verantwortlich oder von einem Vorgang betroffen sein könnte, aufgehoben:
(1) Das habe ich selbst gemacht (nicht sonst jemand).
Aus dem Eigenschaftsbündel einer Person kann man eine Eigenschaft herausgreifen und einer Handlung oder einem Ereignis zuordnen, ohne dass andere Eigenschaften tangiert sein müssen; dafür wird der Adjunktor als genutzt:
(2) Sie hat als Lehrerin große Erfolge.
Vor allem aber manifestiert sich Identität sprachlich, wenn Menschen aus ihrem Leben erzählen und eine Einheitlichkeit ihrer Erfahrungen über Abschnitte der Lebenszeit hinweg aufscheint, hinter der ein stabiles Bild ihrer Persönlichkeit anzunehmen ist.

Die Identität des Anderen bestimmt sein Selbstverständnis und muss besonders respektiert werden. In einer mehrkulturellen Gesellschaft spielt das Verstehen unterschiedlicher Lebensformen eine zentrale Rolle. Der Zugang zum Anderen führt über seine Person, seine (ernst zu nehmenden) Erfahrungen, seine Sprache, seine Geschichten. Vereinnahmung, immer schon wissen, was der Andere denkt und welchen Prinzipien er folgt, Streben nach Assimilation und Ununterscheidbarkeit sind friedlichem Miteinander nicht förderlich. Vor allem aber darf niemand die Identität des Anderen allein an einem Merkmal festmachen, etwa an der Hautfarbe, der Herkunft eines Elternteils, der Religionszugehörigkeit oderan was auch immer. Dies führt in den Rassismus.

Literatur
K. Ehlich/J. Rehbein, J. (1977) Wissen, kommunikatives Handeln und die Schule, in: Goeppert, H. C. (Hg.) Sprachverhalten im Unterricht, München: Fink, 36-114
E. Goffman (1977²) Stigma. Frankfurt: Suhrkamp
L. Hoffmann (1999) Eigennamen im sprachlichen Handeln. In: K. Bührig/Y. Matras (Hg.): Sprachtheorie und sprachliches Handeln. Tübingen: Stauffenburg, 213-234
L. Krappmann (2005¹⁰) Soziologische Dimensionen der Identität: Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett-Cotta
G.H. Mead (1980⁴) Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp
J. Searle (2006) Geist. Frankfurt: Suhrkamp

Eine der vielen literarischen Auseinandersetzungen mit der Identitätsproblematkik ist der Roman "Stiller" von Max Frisch.