Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

  

 

▶ Parallelgesellschaften

> Integrationsverweigerer

 

Als eine Parallelgesellschaft wird (öffentlich seit 2004, aber schon vor 2000 in der soziologischen Literatur) die Kultur einer Minderheit bezeichnet, die sich 'neben' und 'parallel zu' der Kultur der Mehrheit entwickelt hat. Diese Mehrheitskultur wird als einheitlich unterstellt.
Wie Sprachen in Dialekte zerfallen auch Kulturen in Subkulturen (Subkultur der Fußballfans, Heavy-Metal-Anhänger usw.) Diese Subkulturen weichen nur in einigen Handlungsformen und Werten sowie sprachlichen Formen (Wortschatz) ab. Die Einheitlichkeit des Ganzen wird nicht als bedroht gesehen.
Es handelt sich bei Subkulturen wie Parallelgesellschaften nicht um eigene Gesellschaften. Das Wort Gesellschaft bezeichnet eine menschliche Gemeinschaft, die einen Raum teilt (ahd. sal ‚Raum‘), bestimmte Zwecke gemeinsam verfolgt, Normen, Werte und Institutionen ausbildet (z.B. Institutionen des Rechts) und eine gemeinsame Geschichte und Tradition hat. Der öffentliche, politische Bereich wurde seit Hobbes und Locke als Staat gefasst, dem der private, zivile Sektor der Bürger gegenübersteht.
Es wird mit der Parallelität eine getrennte Entwicklung, ein separater Status von als gleichwertig betrachteten Gruppierungen angenommen. Wiewohl Parallelen sich im Unendlichen treffen, aber wer hat so viel Zeit?
Das Gegenstück zu den parallelen Gruppen ist die mächtige Mehrheitsgesellschaft, deren Einfluss offenbar begrenzt ist. Genau hier lässt sich der Ausdruck Leitkultur verankern.

Der BGH hat in letzter Instanz zwei baptistischen Familien das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen, die ihre Kinder aus moralischen Erwägungen von der Grundschule fern halten wollten.
„In der Sache hat der Bundesgerichtshof die – auf Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gestützte - Auffassung der Vorinstanzen bestätigt, dass der Besuch der staatlichen Grundschule dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags diene. Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich geprägten "Parallelgesellschaften" entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setze dabei auch voraus, dass religiöse oder weltanschauliche Minderheiten sich nicht selbst abgrenzten und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und –gläubigen nicht verschlössen. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren sei eine wichtige Aufgabe der Grundschule.“ [http://www.bundesgerichtshof.de/ Pressemitteilung) des BGH 17.11.2007]

Im Zuge der Sarrazin-Debatte sind Politiker zur Verwendung des Ausdrucks Integrationsverweigerer übergegangen. Behauptet wurde, dass dazu etwa 15% der Migranten gehörten. Allerdings existieren dazu keine belastbaren statistischen Zahlen. Klar ist nur, dass es eine Gruppe älterer Migranten der ersten Generation gibt, die - geholt für einfache Arbeiten -  Deutsch nicht gut gelernt haben, oft dazu auch am Arbeitsplatz oder durch Kontakte keine Chance hatten.

Begrifflich soll damit den Migranten eine Bringschuld an Leistungen für die Integration zugewiesen werden, sie erscheinen als Menschen, die sich aktiv den Integrationsbemühungen der Gesellschaft entziehen. Verdeckt wird damit, dass viele Menschen keinen Platz in Integrationskursen bekommen, das Bildungsssystem über 30 Jahr nicht auf Migrantenkinder eingestellt war und es externe Diskriminierung großer Migrantengruppen gibt, die der Integration nicht förderlich sind.

Literatur:
W. Schiffauer (2008) Parallelgesellschaften: Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: Transcript