Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

 

Sprachliches Relativitätsprinzip

 

Sprachliches Relativitätsprinzip ist ein von dem amerikanischen Ingenieur und Sprachforscher Benjamin Lee Whorf geprägter Ausdruck, der die alte sprachtheoretische Auffassung beschreibt, dass mit dem Gebrauch einer Einzelsprache sich eine spezifische Sicht auf die Welt, die Realität verbinde. Verkürzt wird oft gesagt: Die Sprache bestimmt das Denken. Aber ein Determinist war Whorf nicht. Für Whorf ist "die Tatsache, daß Sprachen die Natur in vielen verschiedenen Weisen aufgliedern, unabweisbar. Die Relativität aller begrifflichen Systeme, das unsere eingeschlossen, und ihre Abhängigkeit von der Sprache werden offenbar." (Whorf 1963: 13)
Differenzierter argumentiert der Linguist und Anthropologe Edward Sapir in seinem 1933 erschienenen Klassiker "Language" / "Die Sprache":
"Von der Warte der Sprache aus gesehen, könnte man das Denken als das stärkste Konzentrat betrachten, das die Sprache hergibt, wenn man jedes der Elemente eines normalen Sprechakts auf seinen vollen Begriffsinhalt hin ausschöpft. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß Denken und Sprechen nicht identisch sein können. Äußerstenfalls kann die Sprache als die nach außen gekehrte Seite des Denkens verstanden werden und zwar auf dem höchsten abstrakten Niveau, wo die symbolischen Ausdrucksformen zu Hause sind. Meiner Überzeugung nach ist die Sprache im wesentlichen eine prärationelle Funktion. Sie arbeitet sich sozusagen ganz bescheiden in die Höhe bis zu dem Punkt, wo das Denken, das als latente Möglichkeit in den Kategorien und Formen der Sprache vorhanden ist, schließlich aus diesen Kategorien und Formen herausgelesen werden kann. Auf keinen Fall besteht, wie naiverweise oft angenommen wird, die Funktion der Sprache darin, bereits fertige Gedanken mit einem Namensschild zu versehen." (Sapir 1961: 22f.)

Weniger strittig ist, dass Sprache in Kultur, in Praxis eingebettet ist und diese spiegelt. Sprachen markieren, was in unserer Handlungspraxis wichtig ist, immer wieder vorkommt, und das mag in einer anderen Lebensform etwas Anderes sein. Das geschieht im Verarbeitungsprozess des Wissens, wie sich schon bei Sapir andeutet. Im Sprechen fassen wir, was wir brauchen, für die Kategorisierung zu bestimmten Zwecken, die Kategorien sind darauf angelegt, dass die Zwecke realisiert werden können. Das deutsche System der Verwandtschaftsbezeichnungen reicht uns völlig aus, für andere Kulturen mag es zu differenziert oder viel zu einfach sein: Schauen Sie mal auf das Japanische. Geht es nicht vor allem darum, wie die Kategorien des Wissens sprachlich für und durch eine soziale Praxis geprägt sind?
Unstrittig ist auch, dass spezifische Leistungen der Wissensverarbeitung sprachunabhängig erbracht werden können, etwa das Wiedererkennen von Orten, an denen wir schon einmal waren, von Menschen, denen wir früher begegnet sind, der Zugang zu Farbnuancen und Gestalten. Dabei können wir dann aber auch wieder die Sprache und ihre Kategorien nutzen, wir müssen es, wenn wir das Erkannte weitergeben wollen. (> Kultur). Kommunikative Teilhabe ist mittels Sprache auch etwa Blinden möglich: Forschner (2006) hat gezeigt, wie Geburtsblinde durch ihre Interaktion mit Sehenden auch genuin visuell bestimmte Konzepte wie Farben begrifflich entwickeln und kommunikativ sinnvoll einsetzen können; dabei spielt die feldhafte Einbettung im Symbolfeld (syntagmatisch und paradigmatisch) eine unterstützende Rolle, die im Gebrauch der Formen aktualisiert wird, visuelles Wissen wird also als sprachliches Wissen erworben.
Die Grundfrage ist im Blick auf das Verhältnis zwischen der (statisch gefassten) Sprache und dem (statisch gefassten) Denken schwer zu bearbeiten. Wir können uns den modernen Menschen ohne Sprache nicht vorstellen.
Humboldt hat die Sprache als gemeinsames Sprechen-Denken konzipiert, in und mit der Sprache arbeitet der Geist im Dialog. Die Sprache existiert nicht als solche, sondern nur als Einzelsprache, so formuliert er:
"Das Denken ist aber nicht bloß abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten." (...)
Indem nun die Nationen sich dieser schon vor ihnen vorhandenen Sprachelemente bedienen, indem diese ihre Natur der Darstellung der Objekte beimischen, ist der Ausdruck nicht gleichgültig, und der Begriff nicht von der Sprache unabhängig. Der durch die Sprache bedingte Mensch wirkt aber wieder auf sie zurück, und jede besondre ist daher das Resultat dreier verschiedner, zusammentreffender Wirkungen, der realen Natur, der Objecte, insofern sie den Eindruck auf das Gemüth hervorbrint, der subjectiven der Nation, und der eigenthümlichen der Sprache durch den fremden ihr beigemischten Grundstoff, und durch die Kraft, mit der alles einmal in sie Uebergegangene, wenn auch ursprünglich ganz freigeschaffen, nur in gewissen Gränzen der Analogie Fortbildung erlaubt." (Humboldt 1963: 16, 19)

Es ist sehr schwierig, Sprache und Denken begrifflich so zu trennen, dass Zusammenhänge, Abhängigkeiten etc. aufzuweisen sind, zumal wenn sie empirischer Forschung zugänglich sein sollen. Anhaltspunkte für ein angeborenes bereichsspezifisches begriffliches Wissen oder ein Sprachmodul gibt es bislang nicht. Es scheint so zu sein, dass sich im Erwerb sprachliche und mentale Entwicklung wechselseitig vorantreiben (Sprache mit ihrem Symbolfeld als zentrales Denkmittel, konzeptuelle Entwicklung als Bedingung und Folge des Wortschatzausbaus), während Thesen wie 'erst die Kognition, dann die Sprache' (Piaget) oder 'erst die Sprache, dann die Kognition' (strikter Relativismus) wohl zu radikal sind. Ohne die Möglichkeiten impliziten und abstrahierenden Lernens und ein entsprechendes Gedächtnis, ohne spezifische Wahrnehmungsfähigkeiten und Zugänge zu Rhythmus und Prosodie, kämen Kinder nicht zur Sprache und damit nicht zum kulturellen Wissensschatz und zu entwickelten Denkprozessen. Die Möglichkeit eines Denkens, einer Wissensverarbeitung auch jenseits der Sprache soll nicht bestritten werden.

Eine Darstellung verschiedener Positionen gibt Werlen, Trabant zeichnet das Europäische Sprachdenken nach. Seebaß hat gezeigt, welche Schwierigkeiten und Untiefen anzutreffen sind, will man nur das Problem klar und entscheidbar formulieren.

Literaturhinweise:
G. Deutscher (2010) Im Spiegel der Sprache: Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. München: Beck
N. Evans (2014) Wenn Sprachen sterben. Und was wir mit ihnen verlieren München: C.H. Beck
D.L. Everett (2005) Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Piraha. In: Current Anthropology Volume 46, Number 4, August–October 2005
D.L. Everett (2010) Das glücklichste Volk. München: DVA
D.L. Everett (2013) Die größte Erfindung der Menschheit. Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt haben. München: DVA
S. Forschner (2006) Visuelles im sprachlichen Ausdruck. München: Iudicium
W. v. Humboldt (1963) Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt: WBG
J. Lucy (1992) Language diversity and thought: a reformulation of the relativity hypothesis. Cambridge: University Press
E. Sapir (1961) Die Sprache. München: Hueber
G. Seebaß (1981) Das Problem von Sprache und Denken. Frankfurt: Suhrkamp
J. Trabant (2006) Europäisches Sprachdenken. München: Beck
I. Werlen (2002) Sprachliche Relativität. Tübingen: Francke (UTB)
B.L. Whorf (1963) Sprache denken Wirklichkeit. Reinbek: Rowohlt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                 

 

 

 

Genusklassen des Nomens im Teop* (Papua-Neuguinea)

adaptiert aus: The Teop sketch grammar
Ulrike Mosel with Yvonne Thiesen, University of Kiel (4.3.2008)

*Das Teop hat ca. 6000 Sprecher, die am Meer leben, vom Fischen und von den Früchten der Palmen leben. Sie bauen ihre Häuser aus Palmen und arbeiten auch auf Feldern.

e-Klasse
(Singular-Artikel ist e)

a-Klasse
(Singular-Artikel ist a)
o-Klasse
(Singular-Artikel ist o)

e Kakato 'männlicher Name'

e Sovavi 'weiblicher Name'

e teetee 'Vater des Sprechers'

e sina-naa 'Mutter des Sprechers'

e beera 'der Häuptling, Anführer'

e guu 'Schwein'

e ta 'das Stück/Teil von'

a otei 'der Mann'

a moon 'die Frau'

a beikoo 'das Kind'

a iana 'der Fisch'

a overe 'die Kokosnuss'

a kepaa 'das Tongefäß'

a kasuana 'der Strand'

o demden 'die Schnecke'

o kurita 'der Krake'

o overe 'der Kokosnussbaum'

o paka 'das Blatt'

o hoi ' der Korb'

o kasuana 'der Sand'

o suraa 'das Feuer'

 

Aufgabe: Wie unterscheiden sich die Klassen semantisch?

Lösung

Wie der Wortschatz die Lebensweise spiegelt, zeigen die Verben des Tragens :

pate 'mit ausgestreckten Unterarmen vor sich hertragen

vateen 'in einem Rucksack tragen'

kapee '(ein Kind) auf dem Rücken tragen'

kae 'an einem Henkel tragen'

vadee 'eine schwere Last zwischen zwei Leuten an einem Stock tragen'

 

 

Eine aktuelle Diskussion gibt es über die Sprache der Pirahã am Amazonas, erforscht insbesondere von Daniel Everett. In dem Aufsatz "Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã", in Current Anthropology Volume 46, Number 4, schreibt er:
"Pirahã is the only language known without number, numerals,or a concept of counting. It also lacks terms for quantification such as “all,” “each,” “every,” “most,” and“some.” It is the only language known without colorterms. It is the only language known without embedding (putting one phrase inside another of the same type orlower level, e.g., noun phrases in noun phrases, sentencesin sentences, etc.)." (Everett 2005:622)
Everetts These ist, dass die Pirahã-Kultur über nichts spricht, was nicht unmittelbarer Erfahrung entspricht oder als Resultat solcher Erfahrung (von Generationen) übertragen wird (623). Bestimmt also die Kultur die Sprache? Oder bildet sie einen Rahmen, in dem sich eine Sprache als Werkzeug entfaltet, der aber nicht überschritten wird? So sieht Everett es. Sprache und Kultur sind eng verwoben, Sprache manifestiert, übermittelt, tradiert Kultur. Everett schreibt, dass Pirahã-Angehörige andere Sprachen wie Portugiesisch - trotz Kontakt - nicht richtig lernen, weil die kulturelle Beschränkung sie daran hindere.

Auch die Verwandtschaftsbezeichnungen lassen kulturelle Rückschlüsse zu. Welche?

Verwandtschaft

Verwandtschaftsbezeichnungen der Pirahâ: O weiblich Δ männlich aus:
Dan Everett (2013) Die größte Erfindung der Menschheit. München: DVA, 334

Wenn das alles korrekt ist, wäre zugleich die Chomsky-Position - Sprache wird kulturunabhängig als grammatisches System, genetisch angelegt, erworben - nicht haltbar. Fraglich ist nach Everett auch von Chomsky vertretene These, dass Rekursion, Einbettung ein zentrales Merkmal menschlicher Sprachfähigkeit sei (auch von Dixon dargestellte australischen Sprachen scheinen Gegenbeispiele zu liefern). Nebensätze, attributive Nominalgruppe, Koordination etc. seien im Pirahã nicht vorhanden. Auf den Text folgen interessante Diskussionsbeiträge, im Netz findet sich Weiteres, etwa ein Log von G. Pullum, ein Bild, der Kommentar von Gordon in Science.
Doch wie ist das: Zählt man nicht, wenn man keine Zahlwörter hat?

Die Fragen bleiben spannend: Geht es um Zusammenhänge von Sprache und Denken, geht es um das kulturelle Fundament der Sprachen, braucht man eine bestimmte Kultur, bestimmte kognitive Fähigkeiten, um eine Sprache lernen zu können?

Vg. die Everett-These und Diskussionsbeiträge (van Valin u.a.) in EDGE.

Eine ethnographische und linguistische Darstellung von Erfahrungen mit der Kultur der Pirahǎ ist:
Daniel Everett (2010) Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahǎ-Indianern am Amazonas. München: DVA
Das Buch bringt zugleich die Lebensgeschichte von jemandem, der als Missionar des evangelikalen "Summer Instituts of Linguistics"ausgezogen war, den Pirahǎ den christlichen Glauben zu bringen .... und was daraus geworden ist. Zur These von Sprache als kulturellem Werkzeug:

Dan Everett (2013) Die größte Erfindung der Menschheit. Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprach gelehrt haben. München: DVA

Homepage von Dan Everett.

Zum Pirahǎ auch dieser Aufsatz von Everett.

Dazu auch Grund 4; zu den Sprachen: The World Atlas of Language Structure