Forschungsfeld
Recht und Kommunikation


 

Quelle: Deutscher Anwaltsverein

> Projekt: Der Fall als Fokus professionellen Handelns (ZiF)


Die Verständigung darüber, was Recht und was rechtens ist, ist an das Medium der Sprache gebunden. Die lokale Verständigung über Erwartungen und Abweichungen wird ersetzt durch ein sprachliches System von Rechtsnormen (so sei es) und Verfahrensregeln (wenn es nicht so ist, soll so und so verfahren werden). Dies erlaubt die systematische Bearbeitung der Verletzung und ihrer Folgen. Schrift erlaubt die Fixierung der Normen, ihre raum-zeitliche Überlieferung als Text, ihren Ausbau zu einem Kodex. Kodifizierte Normensysteme schaffen eine Grundlage für die Auseinandersetzung in Rechtskonflikten. Sie bedürfen der treffenden Auslegung. Ihre Schwierigkeiten hat die Hermeneutik bearbeitet, ihre Fundierung in einer institutionellen Interpretationspraxis ist Gegenstand interdisziplinärer Rechtstheorien.
Die Realität, auf die das Recht zugreift, erscheint als Wirklichkeit der Beteiligten und muss im Verfahren auf einen plausiblen Ausschnitt reduziert werden, der rechtlich zu regeln ist. Damit treten die Vermittlungsleistungen der Handelnden, von den ersten textuellen Verarbeitungen (Schriftsätze), den handlungsleitenden Bezügen auf das Verfahrensprogramm, der Hebammenfunktion der Vernehmenden bis zum Erzählungsgeflecht der Klienten rechtlicher Institutionen, in den Blick. Dies ist das Thema linguistischer und mikrosoziologischer Analysen sprachlichen Handelns.

Ausschnitte aus einem Interview mit Annette Wilmes (Deutschlandradio Kultur 26.6.2006) (mp3 Datei: 2,3 MB)


Authentisches Beispiel:
Vernehmung eines Angeklagten (segmentierter Ausschnitt)


o1 A Ich weiß nur, dass der/ äh/ daß der Riske diese Angaben der Polizei in Vechta machte, weil er da in Untersuchungshaft war.
02 A Dass er dieses Haschisch gekauft hat in Holland, um es zu verkaufen hier in Deutschland, das weiß/ hab ich von ihm.
03 S Ja, das is der zwei/ und das is der zweite Punkt, ja.
04 A Ja, dass er hier in Deutschland verkaufen wollte, aber jetzt wird/ beier Polizei/ rät ihm die Mutter, nich zu sagen: "Okay, ich wollts verkaufen",
05 A da sacht er:"Nein, ich wollt es/ verrauchen."
06 A Aber da sagen die nur: "Na", und sacht die Polizei: "Nö, könn Sie  doch nich erzähln, Sie kaufen doch nich zwei Kilo, um se zu rauchen."
07 A "Doch, doch, ich rauche sechs Pfeifen am Tach, ich rauche jeden/ in jeder Pfeife is über n Gramm drin, darum brauch ich soviel."
08 A "Ja, okay, wir glauben Ihnen.
09 A Wie ist das mit Herrn Hasse und Herrn Riske?"
10 R Waren Sie nicht da?
11 A "Ja, die haben nich mitgeraucht."
12 A Dann bleibt in dem Moment/ ff/ die polizeiliche Aussage ersmal stecken.
13 A "Das könn Se uns nich erzähln.
14 A Sie könn/ Sie fahren mit denen dahin, rauchen/ fingen an zu rauchen, und dann sagen Se, die wollten/ die wollten noch nich mal mitrauchen?"
15 A Hat der gesacht: "Okay, die ham mitgeraucht, ich will hier rauskommen."
16 R Warn Sie denn mit/ warn Sie denn mit in Amsterdam am siebten sechsten?

(Hoffmann/Fall 17: A= Angeklagter, R= Richter, S= Staatsanwalt)

Ein weiterer Ausschnitt kann hier heruntergeladen werden (pdf), dazu auch eine Tondatei (= MP3-Datei, 668 KB)


Die Kommunikation vor Gericht lässt sich durch Handlungsmuster, Äußerungsformen und die eingesetzten Strategien charakterisieren. Rechtstermini (z.B. Mensch, Sache) haben gegenüber dem Alltag eine spezifische Bedeutung, es werden unbestimmte Formeln gebraucht (Interesse des öffentlichen Verkehrs, niedrige Beweggründe) Gesetzestexte sind oft schwer verständlich oder nur im Kontext anderer Gesetze nachzuvollziehen, sie lassen sich nur begrenzt optimieren (vgl. Hoffmann 1992).Viele Handlungsmuster werden institutionell transformiert. In der Schule kennt der Fragende die Antwort, vor Gericht muss sich der Zeuge in der Antwort an die Wahrheit halten, während Angeklagte im Prinzip lügen dürfen oder auch zu den Vorwürfen schweigen können. Die Kommunikation ist strategisch bestimmt, denn man kann sich um Kopf und Kragen reden. Die Möglichkeiten des Angeklagten zeigt folgendes Schema (vgl. Hoffmann 1983 zu den Kommunikationsformen):

 

Das Strafrecht wird programmatisch auf die materielle Realität angewendet; die Realität erscheint als Wirklichkeit der Beteiligten und muss im Verfahren auf einen plausiblen Ausschnitt reduziert werden. Das anzuwendende Recht muss seinerseits so bearbeitet werden, dass die fraglichen Sachverhalte rechtsförmig, zum Fall werden.
Damit treten die Vermittlungsleistungen der Handelnden wie der verwendeten Sprache in den Blick. In die Entscheidung darüber, was sich abgespielt hat, gehen alltägliche Erwartungen und Plausibilitäten ein, die die Darstellungen der Subjekte bestimmen, aber auch an sie herangetragen werden. Die Grundannahme ist die, dass die Realität als gemeinsame zugänglich und intersubjektiv verhandelbar ist.
Für das erkennende Gericht kommt alles darauf an, gute und darstellbare Gründe zu finden. Begründen kann man aber nur auf der Basis von Gemeinsamkeiten. Das Beweisspiel kommt stets irgendwann zu Nicht-Hintergehbarem. Dies läßt den Rückgang der Beteiligten auf kollektives Wissen notwendig erscheinen: ob der Gutachter Unfallhäufigkeiten bei bestimmten Reifenprofilen anführt, der Zeuge über ein Verhalten spricht, das für ihn Trunkenheit indiziert oder Richter etwas als seiner Lebenserfahrung widersprechend und damit unplausibel hinstellt. Interessant sind also auch die Wissensstrukturen, auf die Beteiligte zurückgreifen. Eine zentrale Ressource der Darstellungen, der Begründungen und Urteile sind Bilder von Normalitäten, die in die Orientierungen der Aktanten eingehen. Maßgeblich für die Entscheidung über Sachverhalte (Ereignisse/Geschichten) ist eine Normalitätsfolie als kontrastiver Bewertungsmechanismus (vgl. Hoffmann 2002 mit weiteren Hinweisen). Dies ist eine Wissensfolie normaler Abläufe der fraglichen Ereignisse (Konstellation, Modus Operandi, Resultat etc.) und Typen von Aktanten (mit spezif. Dispositionen). Sie hat die Form eines fundierten Glaubens, der sich zu einem Bild verfestigt hat. Ihre Kennzeichen sind:
• es handelt sich um ein kollektives, in den relevanten Zusammenhängen gesellschaftlich erarbeitetes Bild;
• Operationsbereich dieses Wissens ist wiederum Wissen, es ist also ein Wissen zweiter Stufe;
• neben einem Alltagswissen, das nicht institutionsspezifisch geprägt ist, gibt es institutionsspezifische Kollektivbilder;
• es generalisiert aus singulären Erfahrungen mit repetitiven Ereignisstrukturen, die sich aus gegebenen Basiskonstellationen (BK) entfalten;
• es ist ein kategorisierendes Wissen, das Ereignisse und Dispositionen als mehr oder minder normal (mit einer Übergangszone) ausweist;
• dies Wissen ist dynamisch, es unterliegt Kalibrierungen aufgrund von neuen gesellschaftlichen Erfahrungen;
• es induziert handlungsbezogene Erwartungen als Extrapolationen;
• es löst retrospektiv Abduktionen aus, etwa von Abläufen oder Resultaten auf Ursachen oder Dispositionen;
• es ist reflexiv-regulativ: <in BK handle ich wie die meisten anderen>.

L. Hoffmann (1980) Zur Pragmatik von Erzählformen vor Gericht. In: K. Ehlich (Hg.), Erzählen im Alltag, Frankfurt: Suhrkamp, 28-64
L. Hoffmann (1983) Kommunikation vor Gericht, Tübingen: Narr
L. Hoffmann (Hg.)(1989) Rechtsdiskurse, Tübingen: Narr
L. Hoffmann (1991) Vom Ereignis zum Fall. Sprachliche Muster zur Darstellung und Überprüfung von Sachverhalten, in: J. Schönert (ed.), Erzählte Kriminalität.
Tübingen 1991: Niemeyer, 87-113
L. Hoffmann (1992) Wie verständlich können Gesetze sein? In: Grewendorf, G. ed.: Rechtskultur als Sprachkultur, Frankfurt, S.122-157.
L. Hoffmann (1994) Juristische Kommunikation. Eine Verhandlung vor dem Amtsgericht. In: Ehlich, Konrad/Redder, Angelika eds.: Gesprochene Sprache. Transkripte und Tondokumente. Tübingen, 19-91. [=Transkription]
L. Hoffmann (1997) Fragen nach der Wirklichkeit. In: D. Frehsee et al. eds.: Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe. Baden-Baden: Nomos, 200-221.
L. Hoffmann (1998): Das Gesetz. In: Hoffmann, L.u.a. eds.: Fachsprachen. HSK. Berlin/New York: de Gruyter, 522-528
L. Hoffmann (2001) Gespräche im Rechtswesen, in: G. Antos/K. Brinker et al. (eds.), Text- und Gesprächslinguistik Bd.2. HSK 16.2. Berlin/New York: de Gruyter, 1540-1555
L. Hoffmann (2002) Rechtsdiskurse zwischen Normalität und Normativität, in: U. Haß-Zumkehr (ed.), Sprache und Recht. Berlin/New York: de Gruyter, 80-100
L. Hoffmann (2007) Die Wirklichkeit des Gerichts. In: Der Deutschunterricht 4/2007, preprint
L. Hoffmann (2007) Wissensgenerierung: der Fall der Strafverhandlung. In: Dausendschön-Gay, U./Domke, C./Ohlhus, S. (Hg.)(2011) Wissen in (Inter-) Aktion. Berlin/New York: de Gruyter preprint
L. Hoffmann (2014) Der Fall des Rechts und wie er zur Sprache kommt. In: Jörg R. Bergmann, Ulrich Dausendschön-Gay, Frank Oberzaucher (Hg.) »Der Fall« Zur epistemischen Praxis professionellen Handelns. Bielefeld: Transcript preprint
L. Hoffmann (2017) Mündlichkeit im Recht: Kommunikationsformen/Gesprächsarten. In: Felder, E./Vogel, F. (Hg.) Sprache und Recht. HSW. Berlin: de Gruyter (erscheint)
Th.M. Seibert (1981) Aktenanalysen, Tübingen: Narr
Th.M. Seibert (1996) Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts. Berlin: Duncker&Humblot. [Gesamtdarstellung, semiotisch fundiert; Argumentation/Rhetorik, Urteile, Räume u.v.a.m.]
Th. M. Seibert (2004) Gerichtsrede. Berlin: Duncker&Humblot [forensischer Diskurs: rhetorisch-semiotisch]

Weitere Literatur zur Rechtskommunikation und Rechtstheorie

Links 

Recht und Sprache
*Rechtssemiotik (Seite von Th.M. Seibert)
Das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW)
Forensische Linguistik (IAFL)
Bundesverfassungsgericht (Entscheidungen etc.)
Journalistische Arbeiten zum Gericht: Annette Wilmes